Liebe/r Vernissagegast, Kulturkenner/in, Ausstellungshopper und Kunstfreund/in

von Patricia Caspari, Kulturjournalistin Berlin

© 2000 Patricia Caspari
aus: Needleworks II, Katalog Patricia Waller, Osnabrück 2000

 

Köstliche Trauben, vollendete Schnittchen mit Lachs oder feingeräuchertem Schinken, fein-bis herbwürziger Käse – pardon – Fromage, Meeresfrüchte, knackige Salate und dazu ein "vin rouge" der Spitzenklasse. Das üppige Buffet hat Ihre Speichel- und Magensäurefunktion freudig angeregt. "Eine gelungene Ausstellung", rufen Sie blind und wollen zulangen, abbeißen, runterspülen. Doch Vorsicht, bissiger Gast! Haarige Fussel im Mund, vollgesogen mit Speichel, quietschende Wollfäden zwischen den Zähnen, und ein klebriges Garnknäuel im Hals, so muss es wohl sein, wenn man sich an diesem aus Wolle erhäkeltem Buffet labt.

Patricia Wallers EatArt Konzept dient mehr der optischen denn der Gaumenfreude und- sie verheimlicht es nicht – einer gewissen Schadenfreude. Ihre Stichelei richtet sich gegen die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs als Kunstkantine, in der ausgestellte Werke neben Häppchen und Schlückchen nur noch einen zweitrangigen Stellenwert einnehmen, also auch gegen Sie, hungriger Gast.

"Schade, schade", jammert Ihr Bauch, doch nach dieser leibhaftigen Enttäuschung blüht Ihnen ästhetische Sublimation. Abgesehen von den eingebildeten Fusseln im Mund ist der Kopf nun frei für die Aufnahme im Sinne einer Kunstrezeption. Das Wesen der nachgeahmten Speisen tritt, von der sinnlichen Dimension der Nahrungsaufnahme befreit, auch für Sie erkennbar hervor. Das tiefe Rot der Salamischeibe, ihre ovale Form, die kleinen gestickten Fettpunkte, die sie als Kind immer herauspickten oder die aus Zottelwolle imitierte krosse Kruste des Hühnchens, die Sie am liebsten aßen, bevor Sie Vegetarier wurden: Sie vergleichen, Sie erinnern sich.

Jetzt haben Sie am eigenen Leibe den Kern von Hegel’s Ästhetik erfahren, die zuweilen etwas umständlich erläutert, dass die künstliche Perspektive der Kunst erst die wahre Sicht auf die Welt ermöglicht. Sie sehen nicht nur die Speisen wie zum ersten Mal, sondern erinnern sich dank Wallers liebevoller Anordnung an typische Bilder aus Muttis Kochbuch oder den Besuch im Wienerwald in den Siebzigern, an Ihre eigene Vergangenheit, Ihre Welt.

Und schon sind Sie da, wo Kunst Sie hinführen will, weg von den bunten Angeboten der Werbung und den Ablenkungen des Alltags, hin zu sich selbst, um sich – endlich – auf das Wesentliche zu besinnen: Sie.

Essen kann man auch nach der Vernissage.